Worauf soll man vertrauen?
Wie soll man „erkennen“, was die Wirkung einer Pflanze sein könnte? Keine Frage, wir kommen nicht daran vorbei, die Vermächtnisse der „Alten“ wahrzunehmen. Da gibt es große Namen. Menschen, die schon vor Internet und Facebook „weltberühmt“ geworden sind und die bis heute viele „Follower“ haben! Hippocrates von Kos (460-370 v. Chr.) zum Beispiel, der berühmteste Arzt der Antike. Hildegard von Bingen (1098-1179) – Äbtissin, Komponistin, Dichterin und Seherin. Paracelsus (1493 – 1541) – Arzt, Alchemist, Mystiker, Astrologe und Philosoph. Beide waren Universalgelehrte ihrer Zeit. Tabernaemontanus (1522 – 1590) – Mediziner und Botaniker. Carl von Linné (1707 -1778), der einem großen Teil unsere Pflanzen ihre bis heute gültigen botanischen Namen gegeben. Auch Pfarrer Kneipp (1821-1897) soll nicht ungenannt bleiben. Ungenannt, aber nicht unerwähnt bleiben müssen die tausenden von Kräuterfrauen, die in jedem kleinen Dorf und bis in die Königspaläste hinein die Versorgung der Menschen mit den lebens-notwendigen Heilpflanzen sichergestellt haben. Nicht wenige von ihnen sind auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Es waren nicht die Dümmsten!
MIr fällt auf, wenn ich diese (stark gekürzte) Liste so auf mich wirken lassen: es waren jedenfalls nicht die Dümmsten ihrer Zeit, die sich mit Heilpflanzen beschäftigt haben. Vielleicht waren es sogar die Klügsten. Jedenfalls gehörte es für die Universalgelehrten damals offenbar einfach „dazu“, dass Heilpflanzenstudien betrieben und dokumentiert wurden.
Können WIR es uns leisten, Heilpflanzenwissen als „antiquiert“ und als „überholt“ zu betrachten? OK, das war eine rhetorische Frage. Denn nein, wir können es uns nicht leisten. Und weil wir das trotzdem (nicht individuell, aber kulturell) schon viel zu lange getan haben, ist unsere Welt genau da, wo sie ist. Für die Pflanzen ist kaum noch Platz. Für das Wissen über sie in den Köpfen noch weniger. Für den Respekt vor ihrer Welt fast gar keiner mehr.
Pflanzenwissen muss zeitgemäß sein
Allerdings erwacht – grade noch rechtzeitig – ein neues Interesse daran bei vielen Menschen. Eine Bereitschaft, sich auf sie einzulassen und die Pflanzen ZEITGEMÄSS kennenzulernen. Denn eins ist auch klar: Wenn die Germanen angeblich z.B. Gundermann als Heilpflanze bei Wunden eingesetzt haben, wenn Hildegard von Bingen gesagt hat, dass Gundermann „gut ist für das Öffnen der Geburtswege“, wenn Kneipp und Hufeland hinterlassen haben, dass er ein „großes Lungenheilmittel“ ist und wenn die Ärzte des frühen 20. Jahrhunderts Gundermann bei Schuppenflechte eingesetzt haben, dann
- sehen WIR zwischen so verschiedenen Indikationen keinen Zusammenhang – und verwerfen im Zweifelsfall alles alte Wissen in einem Rutsch
- wird deutlich, dass Menschen heute auf ganz andere Weise krank sind, als sie es früher waren
- wird deutlich, dass man manche Krankheiten früher ganz anders verstanden (oder auch nicht verstanden) und jedenfalls anders erklärt hat als heute
- wird deutlich, dass es heute für manches Syndrom oder Symptom effektivere Heilmittel als z.B. Gundermann geben mag 😉
Das soll nicht heißen, dass wir das Wissen und die Überlieferung der „Alten“ verwerfen. Wir können uns davon inspirieren und auf Ideen bringen lassen und in Summe unser Grundverständnis für eine Pflanze dadurch vertiefen. Es heißt nur: jede Zeit kommt nicht umhin, auf der Basis ihrer aktuellen Kultur- und Geistesentwicklung das Pflanzenwissen NEU zu erschließen. Die meisten Pflanzen, mit denen die „Alten“ gearbeitet haben, gibt es alle immer noch. Aber WIR Menschen haben uns verändert.
Unsere Beschwerden sind anders – unsere Heilmittel auch
Unsere Krankheiten haben sich verändert, unsere Belastungen haben sich komplett verändert, unser Anspruch an Gesundheit, Jugend und Schönheit hat sich komplett verändert. Unsere Ernährung hat sich MASSIV verändert. Und unsere Notwendigkeit, im seelisch-geistigen Bereich persönliche Entwicklung zu tun, Sinn zu finden, mehr als nur zu „überleben“, auch das hat sich komplett verändert. Bzw. vielleicht hätten unsere Vorfahren das auch gerne schon erlebt, waren aber zu sehr mit „Überleben“ beschäftigt, als dass dieser Punkt es auf ihre Lebenstagesordnung geschafft hätte.
Dass wir die Pflanzen also NEU für uns bestimmen müssen, erkennen müssen, erfahren müssen, sie in ihrer Dimension neu „zur Schau bringen“ müssen, macht es nicht leichter. Zumal nicht ein ganzer Kulturkreis gleichzeitig damit beschäftigt ist, sondern vergleichsweise wenige Einzelne. Und diese meistens nur leise.
Pflanzenwissen wird kollektiv genutzt – aber individuell entdeckt
Seit Beginn der #Pflanzenreise2019 gehörst vielleicht auch Du dazu. Wenn wir heute und auch in absehbarer Zeit noch nicht „der Weisheit letzten Schluss“ über die Pflanzen verkünden, sondern uns zunächst mal wieder achtsam nähern, mit den ungiftigen von ihnen (z.B. dem Gundermann) behutsam unsere eigenen Erfahrungen machen und diese gelegentlich austauschen, dann ist das schon viel.
In diesem Sinne: bleib’ dran auf Deiner #Pflanzenreise2019, jetzt z.B. am Gundermann. „Stay focussed“. Es gibt soviel Ablenkung im Alltag, soviel vermeintlich Lautes und Wichtiges, dass wir in unserer „behüteten“ westlichen Welt uns stilles und leises Gundermann-Experiment im Alltag tatsächlich verteidigen müssen vor den Wogen der Welt, die uns zu vermitteln drohen, dass alles andere ja soviel wichtiger ist …
Liebe Grüße, Anne
P.S.: Das Bild zeigt übrigens die Ruine des Klosters Disibodenberg, in dem Hildegard von Bingen gelebt und gewirkt hat!