Vom Ginkgo lernen, zwei Seiten zu vereinen
Kennst Du „Ambivalenzkonflikte“ – den sprichwörtlichen Esel, der zwischen zwei Heuhaufen steht und der dort verhungert, weil er nicht weiß, für welche Richtung zum Futter er sich entscheiden soll?
Solche Situationen gibt es in vielen Variationen. Nicht immer sind sie sofort als solche erkennbar. Aber wie oft verweilen wir in etwas, was nicht stimmig für uns ist, weil wir uns einfach nicht darüber klar sind, wie es „richtig“ für uns weiter gehen kann. Die Frage kann in vielen Gesichtern daher kommen:
> aufgeben oder weitermachen?
> alte Stelle oder neue Stelle?
> angestellt oder selbständig?
> alter Partner oder kein Partner?
> kein Partner oder neuer Partner?
> Wissenschaft oder Spiritualität?
> nah bleiben oder die Ferne wagen?
> Ja oder Nein?
Es ist ja offenkundig Teil unseres Mensch-Seins, dass wir immer wieder in Situationen kommen, wo es erstmal noch unmöglich ist eine Entscheidung zu treffen. Weil sie noch nicht reif ist. Weil uns noch Puzzlesteine zur Erkenntnis fehlen. Puzzlesteine, um zu erkennen, wer wir sind, wo wir stehen und wo wir hingehen wollen. Für WELCHE ART VON LEBEN wir uns entscheiden und welchen PREIS wir ggf. bereit sind, dafür zu zahlen. Diese Zeiten durchzustehen, kann sehr anstrengend sein. Wir leben in einer schnell-lebigen Welt. Wir sind es nicht gewohnt, dass manche Prozesse DAUERN! Nicht nur Wochen und Monate, sondern vielleicht Jahre.
Unser LEBEN lässt uns Erfahrungen machen, nicht nur BIS, sondern DAMIT wir nach und nach uns selbst und die uns umgebende Welt immer tiefer zu erkennen vermögen. Und dann fällt es uns plötzlich wie Schuppen von den Augen: „Natürlich, SO ist das. Natürlich – SO mache ich das.“ Im Rückblick ist oft alles ganz klar – aber der Weg dahin …
Zweifellos gibt es Elemente die helfen, wenn wir mal wieder „feststecken“. Gespräche mit Freunden, Stille in der Natur, Lesen von Biographien, regelmäßige Phasen tiefer Entspannung, Selbstliebe, guter Schlaf, eine Therapiestunde – und natürlich Meditation.
Doch auch mit all dem kann „es“ länger dauern, als uns lieb ist. Denn ist einfach ein Lebensprinzip, dass wir verschiedene Seiten verschiedener Medaillen mal selbst erlebt haben müssen, um zu lernen. Eine Abkürzung dahin gibt es wohl nicht. Aber es gibt Trost in der Betrachtung der Natur.
Nicht nur, weil die Natur uns „gut tut“ oder „schön“ ist. Sondern weil sie ein Spiegelbild für alle Phänomene ist, die wir auch in unserem individuellen Leben vorfinden.
Es war Goethe, der das oben umschriebene Phänomen der Polarität in der Natur grade im Ginkgo Baum wiedergefunden hat. Er beschreibt es in seinem berühmten Gedicht:
Gingko biloba
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?
Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?
Nicht nur hat der große Dichter und Naturforscher damit das das Wesen dieser Pflanze erfasst. Er hat gleichzeitig in diesen Zeilen den Weg zu einem Geheimnis gebahnt:
Denn auch wenn es sich über lange Zeiten so anfühlen kann – letztlich gibt es kein Entweder-Oder. Jedenfalls nicht nur. Denn in einem Universum, das durch und durch „verbunden“ ist, gibt es keine letztliche Trennung. Die schmerzlichen Lebensrätsel können beginnen sich auflösen, wenn wir beginnen, das Verbindende zu suchen. Das unten drunter Liegende. Das Wahrhaftige, das letztlich Gemeinsame. Das Zukunftsweisende. Das Echte. Das Tragfähige. Das Freudige. Das Lebendige.
Schau’ Dir ein Ginkgo Blatt an. Schau wirklich hin. Vielleicht entdeckst auch Du – nicht nur in seiner Form, sondern auch in seinen Linien – das Geheimnis, von dem Goethe gesprochen hat. Ein Tipp: Wo ist die Zweiheit? Wo ist die Einheit? Und was ist die – das alles – tragende Verbindung?
Dass Du Dich – auch mitten im Sturm – an Deine Wurzeln erinnerst, so wie ein Ginkgo Baum sich im Sturm auf seine tiefe Pfahlwurzel verlassen kann, das wünsche ich Dir!
Auf bald,
Anne