Heute schätzen wir uns glücklich, wenn wir einen guten Markstand oder Hofladen finden, der uns natürliche Produkte aus regionaler Erzeugung anbietet. Essen einkaufen - das ist uns in zwei bis drei Generationen in Fleisch und Blut übergegangen. Auch wenn die Selbstversorger-Szene boomt, merken die meisten Menschen nach ein zwei-drei "Versuchs-Jahren", dass sie selbst bei guten Ernten im eigenen Garten weit davon entfernt sich, sich und die Familie über's Jahr hinweg ganz vom eigenen Ertrag ernähren zu können.
Familien mit strammen Budget - also fast alle - machen darüber hinaus die Erfahrung, dass es eben nicht egal ist, ob man 10% oder 30 % vom Familieneinkommen für die Ernährung ausgibt. Wie also kann die Versorgung gelingen, ohne dass die Qualität leidet, man die eigenen Werte aufgegeben muss oder das häusliche Finanzsystem zusammen bricht?
Was der Boden damit zu tun hat
Als wir uns in diesem Jahr 2020 in den - vierwöchentlichen - offenen Abenden des Ess Kultur Pur Abendkurses mit dem Thema "Boden - Bodennutzung - Bodengesundheit" beschäftigt haben, ging es nicht zuletzt um diese Frage. Denn nur von gesunden Böden können gesunde Lebensmittel geerntet werden, die Menschen gesund machen und auch gesund erhalten. Und dann soll es auch noch plastikfrei und regional sein. Spezialisten von verschiedenen Bio-Höfen, Fachleute vom Kölner Ernährungsrat, von der Regionalwert AG Rheinland und vom Terra Preta Hof haben uns dazu (physisch oder virtuell) besucht und ihr Wissen mit uns geteilt.
Wie es der Zufall will
Wie es der "Zufall" wollte, hat nun ausgerechnet in diesem Jahr auch hier in Erftstadt (zwei Straßen von meiner Praxis entfernt) der erste Unverpackt Laden eröffnet. Und getoppt wurde das am Jahresende noch von der Gründung der "Erftkooperative", der ersten Solidarischen Landwirtschaft hier im Rhein-Erft-Kreis.
Wie man in den Wald ruft ...
Als ich im Newsletter freudig darüber berichtet habe - und gleichzeitig nach Erfahrungen meiner LeserInnen zu diesem Thema gefragt habe - kamen eine ganze Reihe von wunderbaren Feedbacks von Menschen aus anderen Regionen, die schon gute und beste Erfahrungen mit solidarischer Landwirtschaft, mit ihren Unverpackt Läden und mit ihren Bio-Bauern und Hofläden gemacht haben und täglich neu machen.
Eine Antwort aber hat mich erstmal sprachlos gemacht
Robbi Reisewitz aus der Schweiz hat mir geantwortet, wie die Umstellung auf - nicht nur alternative Einkaufsquellen, sondern ein insgesamt ökologisches Lebenskonzept - bei ihm ausgesehen hat und aussieht. Und wie sich das auf seinen Alltag, sein Einkaufsverhalten, sein Mobilitätsverhalten und auf sein Portemonnaie ausgewirkt hat. Mit seinem Einverständnis darf ich seine lesenswerten Erfahrungen in diesem Newsletter mit Euch teilen. Dazu unten mehr.
Warum eigentlich habe ich darüber so gestaunt?
Nun - seit über 25 Jahren gehe ich - in zugegeben kleinen Schritten - den Weg in Richtung ganzheitlicher Ernährung, ganzheitlicher Versorgungsstruktur und in Richtung Ordnung der Nahrung. Und mit der Ordnung der Nahrung - das habe ich schon oft gesagt - geht auch eine zunehmend gesundere Ordnung im Leben einher. Das Denken wird klarer. Auch der Geruchssinn und der Geschmackssinn ändern sich. Dadurch schaut man anders, hat andere Werte und kauft anders ein. Die Vitalität ändert sich. Und natürlich ändern sich die Rezepte und das Repertoire an Zubereitungsgewohnheiten.
Wenn ich heute Menschen erlebe, die mit all dem ganz am Anfang stehen ...,
dann sieht es manchmal so aus, als hätte ich schon ein ganzes Stück Wegstrecke zurück gelegt. Habe ich auch. Weiß ich ja. Aber in der Antwort von Robbi Reisewitz wurde mir plötzlich klar, wieviel "Musik da noch drin" ist, wenn man das nachhaltige Prinzip zuende denkt - und wirklich konsequent umsetzt. Das hat Auswirkungen, die weit über das eigene Leben hinaus gehen. Das wusste ich "im Prinzip" schon vorher, aber bislang kannte ich niemanden, der dieses Prinzip so weitgehend im eigenen Leben in die Tat umgesetzt hat. Davon kann auch ich noch lernen.
Einfach eine Evolutionsstufe weiter
Während der Rest der Welt weiter fröhlich einkaufen geht - 90 % aller Menschen sogar noch konventionell - haben still und leise manche Menschen die Zukunft schon begonnen, von der fridays-for-future noch träumen und die die Politik landauf-landab noch nichtmal ansatzweise kapiert hat. Das ist doch krass. Ich zolle meinen Respekt vor den Schweizern - und auch vor jeder solawi in Deutschland - die mit ihren Mitgliedern schon das ermöglicht, was Robbi Reisewitz beschreibt. Vielfalt, Frische, Bezahlbarkeit, Artenschutz, ein funktionierendes soziales System und eine hohe Stufe von Genusskultur auf höchstem, nachhaltigen Niveau. Und das hört sich dann so an, ich zitiere:
"Schön zu sehen dass es auch im Rheinland losgeht, Anne;
Du hast Deine Leser eingeladen, von ihren eigenen Erfahrungen und Bemühungen zu erzählen. Ich hätte da so dies und das, und seit die Seuche wütet, sogar noch etwas mehr:
Projekte
Von neustart-schweiz.ch, https://lena.coop und https://www.birsmattehof.ch kann ich berichten - direkt und persönlich, denn in diesen Projekten wirke ich mit.
Bezugsquellen
Im täglichen Leben: für die Lieferung lyfa.ch, Pilze gibts aus Wauwil und von gotthardpilze.ch, und für die Leckerchen gibt es dann noch alle 14 Tage https://chaesgschichten.ch. Nicht zu vergessen auch die Quartalslieferung von https://swisslachs.ch und ein-, zweimal im Jahr etwas Wild vom Jäger, direkt über den Hügel. Und natürlich ein lokaler Grossmarkt, in dem man grosse "Gebinde" vom Restlichen, z. B. Kapern und manche Gewürze etc. - kaufen kann. Das spart Verpackung. Für Mehl und Obst kommt ein Hofladen zum Zug.
Die restliche Versorgung kommt von Unverpackt-Händlern per Lieferdienst im Lastenvelo. Fisch kommt aus einer biologischen Lachsfarm in den Bergen, etwa einmal im Quartal, preisgünstiger, lokaler und frischer als der beste norwegische Biolachs. Die Südfrüchte kommen einmal im Quartal von Partnerhöfen aus Südeuropa. Wenn die Bestellmenge stimmt, kommt der beachtlich teure Preis der Normalität näher. Mittelfristig müssen wir das aber regionaler hinkriegen - las gestern dass im Südbadischen erstmals die Meyer-Zitrone erfolgreich angebaut wurde. Eine unfassbare Delikatesse.
Mobilität
Zum Grossmarkt fahren wir ca. einmal im Quartal, geht alles mit e-bike und Anhänger. Auto ist schon vor zehn Jahren abgeschafft - die Einsparung kommt echter und kompromisslos guter Mobilität mit Fahrrad, ÖPNV, Eisenbahn, Carsharing-Abo und Mietwagen zu Gute, wo nötig auch gern Fahrradrikscha oder Taxi. Beim ADAC kann man nachlesen was ein Auto w i r k l i c h kostet, wenn man es selbst bezahlen muss. Unsere Kontoentwicklung gibt dem Recht, und wir haben noch nicht über den persönlichen Pflegeaufwand, Parkplatzsuche, Unfallschäden, Rechtsstreitigkeiten und Verkehrsstaus gesprochen. All das schenken wir uns jährlich und gern aufs Neue. Die CO2-Einsparung ist da eher ein netter Nebeneffekt.
Solidarische Landwirtschaft
Für die Grund-Lebensmittel - Gemüse und Eier - zahlen wir als Genossenschaftler der Agrico (Birsmattehof) umgerechnet ca. 60 EUR/Monat; dafür gibt es wöchentlich ca 4 kg saisonales, regionales und bio-zertifiziertes Gemüse und Feldfrüchte, durchschnittlich 7-10 Sorten in jeder Lieferung. Insgesamt werden vom Birsmattehof ca. 160 Sorten angebaut, der Abwechslungsreichtum schlägt also auch den grössten Supermarkt um Längen. Letzte Woche gab es z. B. Kardy (die "Mittelmeer-Artischocke"), ein unfassbar leckeres Gemüse das ich noch nie im Verkauf gesehen haben. Zur Zeit hat die Birsmatte-Agrico mehr als 2000 Mitglieder; bei der Abonnentenzahl wird bis zum übernächsten Jahr die 4000 angepeilt. Ach ja - ein bisschen Arbeit auf dem Bauernhof wird auch noch gern gesehen, so ca. 16 Stunden im Jahr.
Geld
Und es zeigt sich überraschenderweise, dass all das unsere Lebensmittelkosten keineswegs erhöht sondern verringert hat. Sicher spielt die Bevorzugung von Unverarbeitetem, Unverpacktem, Frischem und Pflanzlichem dabei eine grosse Rolle.
Kleine Zwischenbilanz
Will sagen - Einkaufen gehen war gestern. Die - sehr guten - Super- und Grossmärkte der Schweiz haben für uns ihre Rolle gespielt, dafür sind wir dankbar, und wir können sie - in der jetzigen Form - mit Respekt und guten Erinnerungen aus unserem Leben gehen lassen. Die Supermärkte können viel, und sie verdienen einen neuen Platz in der allgemeinen Versorgung - ihre logistische, materielle und auch emotionale Infrastruktur sind in vielen Vierteln ihr grösster und eigentlicher Wert, mehr als die angebotenen Produkte. Und es arbeiten eine Menge Menschen dort, die sich auf schöne, nützliche und befriedigende Veränderungen an ihrer dann wirklich wertgeschätzten Arbeit freuen.
Dank
Ich danke den Autoren des Films "The Game Changers", ich danke Bas Kast für seinen "Ernährungskompass", Anna Jones für "A Modern Way To Cook", David Frenkiel und Luise Vindahl für "Die grüne Küche für jeden Tag", Tanja Granditz für "Tanjas Kochbuch" und "Tanja vegetarisch". Dank an Yotam Ottolenghi und Sami Tamimi für ihr unsterbliches "Jerusalem - Das Kochbuch", aber auch dem leider irre gewordenen Attila Hildmann für "Vegan for fit", Olafur Eliasson, René Redzepi und zahllosen Anderen, die ihr Wissen um die Zubereitung und die Wirkung guten Essens grosszügig geteilt haben.
Einfacher wird Vieles natürlich durch die Arbeit der netten Franzosen von www.magimix.com, die bezahlbare und robuste Küchenmaschinen fürs Leben herstellen, die mutigen Kölner von biancodipuro.com, deren 2-PS-Smoothie-Maker uns jetzt seit sechs Jahren begleitet und täglich ran muss, und etliche Autorinnen und Autoren zum Thema Gemüsegärtnern, Hochbeete und Anderes, die ihre Erfahrungen ganz pragmatisch und ideologiefrei nutzbar machen. Hier seien nur Wolfgang Palme ("Ernte mich im Winter"), Jean-Marie Fortier und Doris Kampas genannt, die alle praktische Hinweise und exzellente Quellenverzeichnisse anbieten.
Und sonst so?
Ich denke alles was wir uns hier erarbeitet haben ist in gleicher Form und Ausrichtung auch im Rheinland bei Köln möglich und am Start. Die Behauptung, enkeltaugliche Ernährung und Lebensweise sei kostspielig, zeitaufwändig und kompliziert ist aus meiner Sicht Teil einer mental etwas trägen, emotional etwas unvollständigen und netterweise verklingenden Weltsicht. Es wird sicher eine Generation brauchen bis der Letzte versteht dass man Diesel nicht trinken kann, dass Reisen und Urlaub zweierlei sind, dass ein grosses Haus keine Freunde ersetzt und dass Essen nicht im Regal wächst. Macht nix, bei ca. 5% der Bewohner einer Region liegt der tipping point, ab dem sich eine wirklich gute Entwicklung verselbständigt. Man muss sie dann nur ein bisschen pflegen, gegen Vereinnahmung schützen und ihr den inzwischen allgemein bekannten exponentiellen Wachstumspfad freihalten.
Guten Wochenstart in die Kölner Bucht;
Robbi Reisewitz (wired@truenet.ch)"
(Hervorhebungen von mir)
Auch eine Reise von 1.000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt
Vielleicht findest auch Du im obigen Text die eine oder andere Anregung, das eine oder andere Buch, das Dich interessiert oder auch den einen oder anderen Gedanken, über den es sich lohnt, ein wenig länger nachzudenken. In diesem Sinne wünsche ich Dir eine wunderbare, stille und erholsame 3. Adventwoche.
Liebe Grüße,
Anne
P.S.: Und wenn es auch Dir gefällt, teilen und weiter erzählen nicht vergessen. Danke 🙂
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